„Ballad of a Small Player“: Hat Edward Bergers neuer Film mit Colin Farrell das Zeug zum Oscar?
Am Anfang der Ballade eines kleinen Spielers fährt Colin Farrell auf einer Rolltreppe, und einen Augenblick lang lässt die Kamera von James Friend den Zuschauer im Ungewissen – geht es mit Lord Doyle hinauf oder hinab? Schnell ist klar, dass es ein Abstieg ist. Worüber man sich in den folgenden 101 Minuten von Edward Bergers (Regie) und Rowan Joffés (Drehbuch) „Ballad of a Small Player“ nicht immer sicher ist: Ist dieser Glücksspielsüchtige nur ins Casino seines Hotels hinabgefahren oder ist er ganz woanders gelandet?
Schließlich hat Mickey Rourkes Harry Angel am Ende von Alan Parkers „Angel Heart“ (1987) auch einen Fahrstuhl genommen, dessen Abwärts ihn weit über jedes Kellergeschoss hinaus führte. Die Hölle mag außerhalb der irdischen Sphäre sein, aber in jedem Fall ist sie in ihrem Irgendwo weit, weit unten.
Diese Irritation wird den ganzen Film über wieder und wieder evoziert. Die glitzernde Welt des Cotai Strip, des Super-Vegas an der chinesischen Südküste, lässt Macau als von der übrigen Welt abgetrennt erscheinen. Die Nächte hier sind voller fantastischer elektrischer Lichter, aber auch der Tag gleißt allzu farbintensiv.
Ist Lord Doyle in Naraka gelandet, dem buddhistischen Geisterreich, von dem ihm die Geldverleiherin Dao Ming (Fala Chen) erzählt? Die Menschen in Macau nennen ihn „gweilo“ – einen „fremden Geist“. Und in den Straßen wird auch das Geisterfest gefeiert - eine Zeit, in der Licht- und Schattenwelt Übergänge haben.

Der schweizerisch-österreichische Regisseur Berger ist derzeit einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Filmemacher - seine jüngsten Werke „Im Westen nichts Neues“ (2022) und „Konklave” (2024) gewannen Oscars. Er und Joffé säen Hinweise, dass irgendetwas mit der Wirklichkeit seines Helden geschehen sein könnte. Ein Mensch stürzt an Lord Doyles Fenster in den Tod. Und warum kann er im Baccara nicht gegen eine ältliche, lächelnde Lady gewinnen, die – surreal - immer die Neun aufdeckt - die optimale Kartenkombination.
Dao Ming, die Doyle irgendwie zu lieben scheint, taucht so unvermittelt wie lebensrettend an seinem Tisch in einem Restaurant in Hongkong auf, in dem allein er zu dinieren scheint. Die ganze Aura des Films hat etwas Unheimliches. Ein Blick in den Schacht einer fast leeren Seele.
Lord Doyles ehrlichster Moment gegenüber Dao Ling
Natürlich kann all das übernatürlich Wirkende auch nur halluzinatorische Wahrnehmung eines Mannes sein, der sich von der Illusion losreißen muss, das Glück werde am Ende auf seiner Seite sein, ein Happy End sei ihm vorbestimmt. Die Hölle Lord Doyles, der eigentlich Reilly heißt, ist seine Sucht aufs Gewinnen.
Vier Tage Zeit hat er, um immense Schulden an die Casinobank zurückzuzahlen, sonst will man ihn der Polizei melden. Eine schräge Dame namens Cynthia Blithe (Tilda Swinton), mit der er sich eine absurd komische Verfolgungsjagd liefert, gibt ihm sogar nur 24 Stunden, um die mehr als 900.000 britische Pfund zurückzuzahlen, die er als Anwalt einer alten englischen Lady gestohlen hat. „Ich möchte so gern einmal frei von Scham sein“, gesteht der Betrüger Reilly Dao Ming, als die ihn nach einem Herzinfarkt auf ihr Hausboot auf Lamma Island gebracht hat.

Anders als in der bislang nicht ins Deutsche übersetzten Romanvorlage des britischen Schriftstellers Laurence Osborne vermittelt der in Wolfsburg geborene Berger in seiner dritten aufeinanderfolgenden Literaturverfilmung nach „Im Westen nichts Neues“ (Erich Maria Remarque, auch für Netflix) und „Konklave“ (Robert Harris) die Gefangenschaft Reillys in seiner Sucht, den daraus resultierenden Selbsthass und die mit ihm einhergehende Selbstzerstörung nicht als inneren Monolog - das liegt in der Natur des Mediums.
Sondern durch Außendarstellung. Visuell liefert Berger einen weiteren beeindruckenden Film. Die Verlagerung der inneren Pein auf Colin Farrells Gesicht und auf die Dialoge ergeben eine sehr starke Fokussierung auf die Hauptfigur, die in ihrer Verwahrlosung immer mehr an einen Junkie erinnert. Die anderen Charaktere kommen zu kurz.
Am Ende wird nach all den Anzeichen tatsächlich eine Geistergeschichte daraus – aber anders als gedacht. In Verbindung mit dem (Aber-)Glauben der chinesischen Casinoleute öffnet sich zum Filmende eine Tür für den in Wahrheit großen Spieler Reilly, mit dem es eine andere Wendung nimmt als etwa mit dem von Nicolas Cage gespielten Trunksüchtigen in Mike Figgis‘ Film „Leaving Las Vegas“ (1995).
Der damals vier Oscars einfuhr. Die Academy hat überhaupt ein Faible für Suchtdramen - zuletzt wurden auch Darren Aronofskys „The Whale“ (2022, über Fresssucht) und Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ (2020, über Alkoholismus) gekürt.
Der „Small Player“ endet mit einer Pointe wie zuvor „Konklave“. Auch in diesem Fall ist es für den Spannungserhalt hilfreich, den Roman nicht zu kennen. Zwar hat diese „Ballade“ nicht eine einzige liebenswerte Figur und zeigt auch keinen realen Ausweg. Aber sie ist wie ein intensiver Traum, der sich noch Tage später nicht verflüchtigt.
„Ballad of a Small Player“, Film, 101 Minuten, Regie: Edward Berger, Drehbuch: Rowan Joffé, mit Colin Farrell, Fala Chen, Tilda Swinton, Alex Jennings, Deanie Ip, Jason Tobin, Adrienne Lau, Alan K. Chang (streambar bei Netflix)
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